Wer muss sich fürchten, wenn Nuklearabkommen futsch ist?

22.10.2018
Iswestija

Die USA könnten bald aus dem mit Moskau unterzeichneten INF-Vertrag austreten. Ein Blankoscheck für Aufrüstung? Einige Experten bezweifeln derweil, ob ein solcher Schritt überhaupt Vorteile für die USA oder gar Russland haben kann, wo doch beim Ausbleiben einer gemeinsamen Lösung eine dritte Partei ins Spiel kommen könnte.

Ende der vergangenen Woche sind in den Vereinigten Staaten Medienberichte aufgetaucht, wonach Washington aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) austreten könnte. Später bestätigte US-Präsident Donald Trump diese Informationen höchstpersönlich.

„Russland verletzte dieses Abkommen. Es tat das seit vielen Jahren, und ich verstehe nicht, warum Obama keine Verhandlungen zu diesem Thema geführt hat oder warum er aus dem Vertrag nicht ausgetreten ist“, so der US-Staatschef. Nach seinen Worten kann Washington es den Russen nicht erlauben, gegen das Dokument weiter zu verstoßen, und wird es deshalb annullieren. „Wir werden wieder diese Waffen bauen“, kündigte Trump an und ergänzte, dass sich daran nichts ändern werde, selbst wenn Russland und China auf einmal einen neuen Vertrag besprechen wollen.

In Moskau unterstreicht man immer wieder, dass der INF-Vertrag das wichtigste Element der strategischen Sicherheit sei, wie auch der einstige ABM-Vertrag. Aber in einigen Fällen leisteten russische Offizielle auch Kritik an dem Abkommen.

So hatte der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow 2007 im Grunde dieselben Argumente angeführt, die jetzt auch die Amerikaner anführen. Er nannte nämlich den INF-Vertrag „ein Relikt des Kalten Kriegs“ und betonte, dass solche Raketen notwendig seien, weil sie inzwischen von Ländern wie China, Indien, Pakistan, Israel, dem Iran und Nordkorea entwickelt würden. Und 2013 sagte schon Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich, die Entscheidung der damaligen UdSSR-Führung zum Abschluss des INF-Vertrags wäre „zumindest fragwürdig“ gewesen.

Dann darfst du niemandem gehören!

Die Schließung des INF-Vertrags hatte ihre Vorgeschichte. Kurz und knapp, alles begann damit, dass die Sowjetunion 1976 in der damaligen Weißrussischen Sowjetrepublik Raketenkomplexe „Pioner“ aufstellte, deren Reichweite 5000 Kilometer übertraf. Damit wurden die alten Raketen R-12 und R-14 abgelöst, die dieselbe Funktion erfüllt hatten: die nukleare Eindämmung in Europa.

Aber der Umfang der Stationierung dieser mobilen „Pioner“-Raketenkomplexe war größer als der der alten R-12- und R-14-Raketen, wobei ihre Schusspräzision viel höher war. Zudem waren sie mit spaltbaren Gefechtsköpfen bestückt.

Die Nato reagierte darauf mit einem „Doppelbeschluss“: Einerseits sollte Moskau zu Abrüstungsgesprächen aufgefordert werden. Und als „hartes Argument“ sollte die Stationierung von Mittelstreckenraketen Pershing II (Reichweite 1770 Kilometer) und von bodengestützten Marschflugkörpern Tomahawk (Reichweite 2500 Kilometer) dienen. Das wurde im Herbst 1983 getan.

In Moskau weckte das starke Befürchtungen. Denn die Pershing-Raketen hatten hochpräzise Sprengköpfe mit automatischer Kurskorrektur in der Schlussphase des Flugs. Allerdings waren die Angaben der sowjetischen Aufklärung nicht ganz genau, indem sie behauptete, Pershing-Raketen könnten Moskau erreichen (wobei sie bestenfalls den Westen des Gebiets Moskau erreichen könnten). Hinzu kam, dass die erwähnten hochpräzisen Sprengköpfe von den Amerikanern erst getestet, aber nie in die Bewaffnung aufgenommen wurden. Allerdings kann man nicht behaupten, das wäre ein richtiger Fehler gewesen: Immerhin wurden die Raketen permanent vervollkommnet, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende doch bis Moskau fliegen könnten (und zwar innerhalb von sechs oder sieben Minuten), war ziemlich groß.

Die Geschichte des zehnjährigen „Frontaufpralls“ der zwei Blöcke enthält etliche Fehler und vergebene Chancen. Indem die Sowjetunion die Nato-Strategie, deren Schlüsselelement die Pershing-Raketen waren, für einen Bluff hielt, verzichtete sie Ende der 1970er-Jahre auf eine aussichtsreiche Variante. Wie der sowjetische Diplomat Oleg Grinewski erzählte, hatte Washington Moskau durch Bonn vorgeschlagen, dass die Zahl der „Pioner“-Raketen die der alten R-12- und R-14-Raketen nicht übertreffen sollte. Die Russen lehnten diesen Vorschlag ab. Als aber Pershing-Raketen schon Realität waren, plädierte der damalige UdSSR-Staatschef Juri Andropow im August 1983 dafür, dass alle „Pioner“-Raketen, die über die Zahl der in Großbritannien und Frankreich stationierten Raketen hinausgingen, entsorgt werden. Das wäre eben die Rückkehr zur Situation von 1979 gewesen, doch nun war schon die Nato dagegen.

Moskau belastete im Gegenzug die Situation, indem es das Problem der in Europa stationierten strategischen Raketen an die Strategische Verteidigungsinitiative der USA band und zudem seine operativ-taktischen Raketen in der DDR und der Tschechoslowakei aufstellte. Dadurch geriet die Situation in eine aussichtslose Sackgasse, aus der erst 1985 ein Ausweg gefunden wurde.

Nach langen Verhandlungen wurde beschlossen, dass die Sowjetunion und die USA ihre ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit der Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometer entsorgen sollten. Und eben das wurde im INF-Vertrag verankert, der im Dezember 1987 von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnet wurde.

Die Sowjetunion verzichtete auf ihre Raketen „Pioner“ und „Temp-S“ (Reichweite 900 Kilometer) sowie auf Marschflugkörper „Reljef“ (Vorfahre der jetzigen „Kalibr“-Komplexe) und die alten R-12 und R-14.

Die Amerikaner gaben im Gegenzug ihre Raketen Pershing IA, Pershing II und Gryphon auf.

Darüber hinaus vernichtete Moskau seine operativ-taktischen Komplexe „Oka“ („Urgroßvater“ der modernen „Iskander“-Komplexe), für die der INF-Vertrag eigentlich nicht galt, während Washington garantierte, dass es seine taktischen Raketen „Lance“ mit Neutronensprengköpfen in Europa nicht aufstellen würde.

Etliche Probleme

Man muss sagen, dass es wohl kein anderes Abkommen zur Rüstungskontrolle gab, um das es so viele Skandale gegeben hätte wie um den INF-Vertrag. Als erstes trat Moskau in den späten 1990er-Jahren mit Vorwürfen auf. Die USA hatten damals Stufen von Interkontinentalraketen entsorgt, die laut dem START-1-Vertrag zu vernichten waren. Dabei wurden sie nämlich zu Zielscheiben bei Tests von Raketenabwehrsystemen verwendet. Moskau ließ sich das nicht gefallen und behauptete, Washington würde de facto Mittelstreckenraketen entwickeln. Das war im Grunde wirklich so, denn die Zielscheiben imitierten eben ballistische Raketen mittlerer Reichweite, welche beispielsweise der Iran und Nordkorea hatten bzw. entwickelten. Die Amerikaner erwiderten jedoch, dies wären keine Raketen, sondern „Beschleunigungsmittel“, die „zwecks Forschungen“ eingesetzt wurden, was aber laut dem Vertrag erlaubt war.

Washingtons Gegenvorwürfe ließen nicht lange auf sich warten. Als erstes wurde Moskau beschuldigt, eine richtige Mittelstreckenrakete zu entwickeln: RS-26 „Rubesch“. Die Russen führten einen demonstrativen Test dieser Rakete durch und zeigten, dass ihre Reichweite bei 5800 Kilometern lag. Damit wurden die Vorwürfe der Amerikaner im Sinne des INF-Vertrags unbegründet. Dennoch waren sich die meisten Experten im Westen einig, dass es sich doch um eine Mittelstreckenrakete handelte, die als Interkontinentalrakete getarnt war – für den Fall einer Annullierung des INF-Vertrags.

Daraufhin warf Russland zwei weitere Probleme auf. Bei dem ersten war das im Grunde nichts als „Trolling“: Der Begriff Marschflugkörper im Sinne des INF-Vertrags galt durchaus für amerikanische Drohnen, die mit Schlagwaffen bestückt waren. Die Amerikaner erwiderten, dies wären trotzdem bemannte Flugmittel, auch wenn der Pilot einer solchen Drohne nicht an Bord, sondern am Pult in der Flugleitzentrale sitzen würde.

Und zweitens ließ sich Moskau das Thema Aufstellung von Raketenabwehrkomplexen Aegis Ashore in Rumänien und Polen nicht gefallen. Dabei handelt es sich um die bodengestützte Version der universalen seegestützten Startanlagen Mk.41. Aber seegestützte Komplexe feuern Tomahawk-Marschflugkörper ab. Was ist das – eine Vertragsverletzung? In diesem Punkt ist Washingtons Position ziemlich schwach: Es behauptet, dass die Startanlagen „offensichtliche konstruktive Unterschiede“ hätten, will aber nicht erläutern, wie sie eigentlich sind.

Der größte Vorwurf der Amerikaner gegen Russland, mit dem sie aktuell auftreten, besteht darin, dass Moskau Marschflugkörper 9M729 besitzt, die von mobilen Startanlagen abgefeuert werden. In Übersee zeigte man sich nämlich überzeugt, dass dies die bodengestützte Version der Rakete 3M14 „Kalibr“ wäre. Und dann ging es Schlag auf Schlag: Die Russen behaupteten offiziell, die Rakete würde voll und ganz dem INF-Vertrag entsprechen, aber inoffiziell warnten sie, dass dies nichts als Wortklauberei um die Deutung des Vertragspunktes sei, der Tests von see- oder luftgestützten Marschflugkörpern unter Anwendung der bodengestützten Infrastruktur betrifft. Dann behaupteten die Amerikaner, die Russen hätten diese Raketen nicht nur getestet, sondern sogar schon aufgestellt — in der Ural-Region.

Und jetzt wurde dieser Punkt zum formellen Grund, warum Washington aus dem INF-Vertrag austreten will.

Wer muss eigentlich bangen?

Wenn man davon ausgeht, dass der INF-Vertrag jetzt vom Tisch ist, stellt sich die Frage: Wer muss denn am meisten Angst haben? Viele Experten messen schon jetzt die Entfernung zwischen den Raketenabwehrsystemen in Europa und Moskau und fragen sich, wo sie aufgestellt werden sollten, um die russische Hauptstadt zu erreichen – in Deutschland, Polen, den baltischen Ländern oder vielleicht sogar in der Ukraine?

Das ist nicht gerade unbegründet, denn in der militärtechnischen Politik sind die Möglichkeiten wichtiger als die Absichten, während Atomwaffen eine dermaßen spezifische Waffengattung ausmachen, die nicht nur die Einsatzformen diktiert, sondern auch die ganze Struktur der internationalen Sicherheit umgestaltet.

Ob das aber auch wirklich so ist? Muss man denn wirklich fürchten, dass in Europa wieder Pershing-Raketen aufgestellt werden, wie das 1983 passierte?

„Der INF-Vertrag war vor 30 Jahren eine wichtige Errungenschaft des Präsidenten Reagan. Aber jetzt betrügen die Russen uns unverhohlen, und die Chinesen sind an dem Abkommen nicht beteiligt und stocken ihre Raketenzahl permanent auf“, klagte der republikanische US-Senator Tom Cotton unlängst in einem Pressegespräch.
Aber was haben denn die Chinesen mit dem INF-Vertrag zu tun? Übrigens erwähnte auch Präsident Trump das Reich der Mitte. Und das war eben die Antwort auf die Frage, vor wem man eigentlich am meisten Angst haben müsste.

China setzt in Fragen der regionalen Eindämmung auf Mittelstreckenraketen, unter anderem auf hochpräzise Raketen DF-21C, DF-21D und DF-26, die mit Eigenlenkungssystemen ausgestattet sind – genauso wie Pershing-Raketen. Aber im Unterschied zu den letzteren stattet Peking solche Raketen sowohl mit nuklearen als auch mit üblichen Sprengköpfen aus.

Die Amerikaner lassen sich das seit langem nicht gefallen. Bei DF-21D handelt es sich eigentlich um eine ballistische Anti-Schiffs-Rakete, die man irgendwie abschießen müsste. Denn sonst könnten die US-Flugzeugträger, die Taiwan im Falle einer Anspannung der Situation helfen würden, große Verluste tragen. Und das ist übrigens die Antwort auch darauf, wer am meisten Angst vor der US-amerikanischen seegestützten Raketenabwehr haben müsste. Und das ist gar nicht Russland.

Aber es geht nicht nur um Schiffe:

Hochpräzise Mittelstreckenraketen können die ganze militärische Infrastruktur in der Region lahmlegen, so dass der dortige Kriegsschauplatz in Isolation geraten würde. Und China könnte in dieser Zeit seine Aufgaben erfüllen: beispielsweise Taiwan erobern oder auch Japan im Kampf um die umstrittenen Inseln bezwingen.

Und angesichts dessen wollen die Amerikaner schon seit langem Kampfmittel mittlerer Reichweite haben, um chinesische Raketen aus größerer Entfernung abschießen zu können. Zudem wollen sie das Reich der Mitte bei dessen eventuellen Einsätzen vor der eigenen Küste behindern und das so genannte „asymmetrische Potenzial“ vernichten.

Beispielsweise gegen Startanlagen für Anti-Satelliten-Waffen kämpfen, die aktuell als eines der größten Probleme bei einer hypothetischen bewaffneten Konfrontation Washingtons und Pekings gelten.

Angesichts dessen kann man sagen: Zwar lässt sich ein Neustart des russisch-amerikanischen Wettrüstens in Europa nicht völlig ausschließen, aber viel wahrscheinlicher ist, dass Ostasien in den Mittelpunkt rücken wird.

Die Schlüsselfrage tritt jedoch über den Rahmen des INF-Vertrags hinaus: Die letzte Stütze aus der Sicht der Rüstungskontrolle (außer des Atomwaffensperrvertrags) ist der Prager „New START“-Vertrag von 2010. Die Amerikaner haben diesbezüglich in letzter Zeit auch so viele Dinge gesagt, dass er in seiner aktuellen Fassung nicht verlängert, sondern umformuliert werden sollte. Und darum lässt sich wohl der wichtigste Kampf erwarten:

Wenn sich die Seiten auf einen neuen Deal im Bereich strategischer Rüstungen einigen werden, dann wird sich das INF-Problem von selbst auflösen. Und falls nicht, dann werden die Schwierigkeiten um Waffen mittlerer Reichweite nur ein geringer Teil der viel größeren Probleme sein, die der Zusammenbruch der strategischen Stabilität auslösen könnte.
https://de.sputniknews.com/zeitungen/20181022322718789-inf-vertrag-kuendigung-analyse/

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